Rekonstruktionistisches Judentum: Ein Crashkurs

von Rabbi Les Bronstein

Wenn Sie sich als Rekonstruktionistischer Rabbiner bezeichnen, werden Sie von Personen unweigerlich mit der Frage konfrontiert: „Können Sie mir in wenigen Worten sagen, worum es im Rekonstruktionismus eigentlich geht?“

Als ich einmal am Schreibtisch eine Antwort formulierte, die ich bei solchen Gelegenheiten schnell aus der Tasche ziehen könnte, entschied ich mich dazu, der Frage dadurch zu begegnen, dass ich drei Grundsäulen des Judentums exemplarisch erwähne, die für jede der vier jüdischen Strömungen von zentraler Bedeutung sind. Dadurch versuche ich den Menschen zu zeigen, wie rekonstruktivistische Juden (und, um ehrlich zu sein, eine Vielzahl von Juden auf der ganzen Welt) diese Dinge betrachten, und wie sich deren Sichtweise vom traditionellen Judentum unterscheidet, aber dennoch dem Geist der Tradition überraschend nahe kommt.

Meine drei Lackmus-Themen sind Tora, Gebet und Ritual und Mizwot. Hier sind meine paar Worte zu jedem dieser Punkte.

Tora

Die Überlieferung sagt uns, dass die Tora von Gott Moses diktiert und dann durch die Generationen weitergegeben wurde. Rekonstruktionistische Juden sehen in der Tora die Antwort des jüdischen Volkes auf Gottes Gegenwart in der Welt (und nicht nur Gottes Geschenk an uns). Das heißt, die Juden haben die Thora geschrieben. Das heißt aber nicht, dass die Tora nur eine menschliche Schöpfung ist. Es ist eine Antwort auf das Heilige. Es ist ein Versuch, ein ganzes Volk davon zu überzeugen, den Alltag auf eine heilige Weise zu betrachten.

Ja, es ist faszinierend, die Werkzeuge der Geschichte, Wissenschaft und Chronologie auf die Tora anzuwenden. Diese Werkzeuge geben uns den historischen und natürlichen Kontext der Tora. Aber sie geben uns nicht die Essenz der Tora. Die essentielle Tora liefert weder eine Erklärung der Teilung des Meeres im Exodus, noch die geologische Definition der ursprünglichen Flut oder die kosmologische Identifizierung von „Lass es Licht sein“. Die essentielle Tora besteht in der Wahrheit tief in diesen Geschichten, einer Wahrheit, die ein Bild einer Gesellschaft ausstrahlt, die auf Gerichten und sozialer Empathie beruht. Gott hat diese Tora nicht geschrieben, da Gott nicht per se schreibt. Aber Gott ist überall in den Details davon.

Gebet und Ritual

Auf den ersten Blick deutet der Text des Siddur darauf hin, dass unsere Gebete direkte Rezitationen und Eingaben an einen Gott sind, der „anders“ ist als wir und der, wie wir hoffen, zuhört und eine positive Antwort auf unsere Gebete erwägt. Rekonstruktivistische Juden behalten die traditionelle Sprache des jüdischen Gebetes bei, aber nicht das offensichtliche Verständnis seiner Bedeutung und Funktion.

Vielmehr verstehen wir das Gebet als Instrument, um die Aufgabe des Erwachens zu erfüllen. Wir müssen uns dem Wunder des Lebens und den Verpflichtungen bewusst machen, die in diesem Leben liegen. Wir glauben, dass wir die Hauptantwort auf unsere eigenen Gebete sind und dass wir ein Gebet brauchen, um uns an die göttlichen Werte zu erinnern, die hinter unserem wohlwollenden Handeln in der Welt stehen. Wir verstehen Gebet auch als einen Weg, anderen Menschen auf der Welt zuzurufen, in der Hoffnung, dass auch sie sich dem göttlichen Unternehmen der Heilung, Fürsorge und dem Kampf gegen Ungerechtigkeiten anschließen mögen.

In der Summe sind Gebet und Ritual der Weg des jüdischen Volkes, unser Bewusstsein für die Heiligkeit des Lebens zu schärfen, unsere moralischen Werte zu klären und zu bekräftigen und Zeit und Raum auf heilige Weise zu markieren.

Mizwot

Das Wort Mizwa bedeutet „Gebot“ oder „Tat“, und die Tradition versteht Mizwa wörtlich als direkte Gebote von Gott über die Tora. Als solches könnten wir eine Mizwa als Gelegenheit für eine sinnvolle Beziehung zu Gott oder unsere eigenen Seelen verstehen, aber ungeachtet dessen sind wir dazu verpflichtet, die Tat in jedem Fall auszuführen, ungeachtet einer geistigen Erhebung, die sich daraus ergeben könnte.

Wie zu erwarten ist, lehrt das rekonstruktivistische Judentum, dass die Mizwot unsere eigene Erfindung sind. Mizwot sind unsere besonders jüdischen Arten, auf den universellen Gott zu reagieren. Wir empfinden Gott als ein Verlangen nach Heiligkeit im Allgemeinen, und die jüdischen Mizwot sind die Art und Weise unseres Volkes, diese universelle Heiligkeit in unserem eigenen spezifisch jüdischen Kontext auf die Dinge des täglichen Lebens zu bringen.

In diesem System wählt Gott die Juden nicht als Erfüllungsgehilfen der Gebote. Die Juden entscheiden sich vielmehr dafür, von Gott durch ein weites Netz heiliger Handlungen (Mizwot) berufen zu werden, das von der Vereinbarkeit von Arbeit und Ruhe (Schabbat) über die Einrichtung von Gerichten und Gesetzen bis hin zu sexueller Treue, Respekt vor Kindern, medizinischer Ethik und dem Wechsel der Jahreszeiten reicht. (Also, asher ker’vanu la’avodato, „der uns zu Ihren Diensten gerufen hat.“) Paradoxerweise sind es die Mizwot, die unsere Jüdischkeit bewahren, uns aber gleichzeitig auch auf das größere Universum einstimmen, von dem wir ein winziger Teil sind.

Wie reagieren die Leute auf diese Art von Antworten? Klar, die meisten haben davon noch nie etwas gehört. Es sind nicht Antworten, die sie erwartet hätten. Manche mögen diese Art der Darstellung, manche sind skeptisch und manche wissen, dass sie die Informationen einfach mal auf sich wirken lassen müssen. Ich hoffe, dass dieser Crashkurs im rekonstruktivistischen Judentum die Menschen dazu bringt, diese Bewegung nicht als lose definierte Religion zu betrachten, sondern als ein Credo von „Alles ist möglich“ und als ernstzunehmender moderner Versuch, das Judentum als Disziplin, als Lebensweg und als Antwort auf die Heiligkeit zu verstehen, die unsere Welt erfüllt.

Quelle: https://www.reconstructingjudaism.org/article/reconstructionist-judaism-crash-course