Nur die Kenntnis über die Vielfalt des Judentums erlaubt es, eine richtige Vorstellung über das Judentum zu entwickeln. Es gibt nicht „die Juden“, sondern sehr verschiedene religiöse und kulturelle Identitäten, die unterschiedlichen Strömungen des Judentums zugeordnet werden können. Dazu gehören im Wesentlichen die Orthodoxe, die Konservative, die Liberale und die Rekonstruktionistische Strömungen des Judentums. Die letzteren drei Strömungen werden als progressive Bewegung des Judentums oder als Reformjudentum bezeichnet. Bereits vor über 150 Jahren gehörte die absolute Mehrheit der Juden in Deutschland dem Reformjudentum an.
Deutschland als Wiege des Reformjudentums.
Das Reformjudentum in Wiesbaden
Im 19. Jahrhundert war in Wiesbaden Rabbiner Abraham Geiger tätig. Er war einer der ersten und wichtigsten Vertreter des Reformjudentums in Deutschland. Dessen Namen trägt das erste nach der Shoah gegründete Rabbinerkolleg in Deutschland. Abraham Geiger plädierte für eine Anpassung historisch bedingter religiöser Ritualgesetze an die Gegenwart. Als sein Hauptwerk gilt Urschrift und Übersetzungen der Tora (1857), in dem er postulierte, dass sich die frühen Rabbiner der Mischna um eine Liberalisierung und Demokratisierung des jüdischen Gesetzes bemüht hätten. Innerhalb der Reformbewegung des Judentums setzte sich Geiger unter anderem für die Gleichberechtigung der Geschlechter, für die Vereinfachung und Verkürzung des Gottesdienstes, für den Gebrauch des Deutschen in der jüdischen Liturgie, für die Selbstbestimmung beim Einhalten des Schabbats sowie der Speisegesetze und für den Verzicht auf die Beschneidung der jüdischen Jungen ein.
Alte Synagoge Wiesbaden auf dem Michelsberg im maurisch-byzantinischen Stil.
Im Jahr 1869 errichtete die größte Jüdische Gemeinde Wiesbadens die Reformsynagoge am Michelsberg. Diese Gemeinde war eine progressive Jüdische Gemeinde im Sinne von Abraham Geiger. Diese stand für die Integration, Demokratisierung sowie für die Anpassung religiöser Ritualgesetze an die Gegenwart. Von den knapp 3.000 Wiesbadener Juden gehörten der orthodoxen Gemeinde Wiesbadens in der Friedrichstrasse zu keinem Zeitpunkt zwischen 1869 und 1942 mehr als 50 Familien an.
Die Synagoge wurde wie viele andere am 9./10. November 1938 zerstört.
Im Jahr 1938 wurde die Reformsynagoge zerstört. Die Mitglieder der Jüdischen Reformgemeinde wurden, wie auch alle anderen in Deutschland lebenden Juden, deportiert und zum größten Teil ermordet. Dazu zählten auch die Personen, die einen jüdischen Vater hatten. Viele nichtjüdische Ehepartner sind mit ihren Lieben in die KZs mitgegangen und wurden ebenfalls ermordet.
Entwicklung des progressiven Judentums und seine Bedeutung
Die in Deutschland entstandene progressive Bewegung des Judentums verbreitete sich in der ganzen Welt. Seitdem hat sich die Weltunion der Progressiven Juden, zu der die Rekonstruktionistische Strömung des Judentums gehört, zur größten jüdischen Bewegung der Welt entwickelt, die zurzeit in fast 40 Ländern mehr als 1,5 Millionen Mitglieder zählt.
Die Geschichte des Judentums in Deutschland und in der Welt ist mehr als eine Ausgrenzungs-, Verfolgungs-, Vernichtungs- und Opfergeschichte. Man darf diese nicht auf die Schoah (eine Katastrophe/Massenvernichtung der Juden zur Zeit der nationalsozialistischen Herrschaft) beschränken. Der Beitrag von jüdischen Persönlichkeiten zum wissenschaftlichen, kulturellen, wirtschaftlichen und politischen Fortschritt Deutschlands und in der Welt ist von enormem Wert. Das progressive Judentum machte es möglich, da die jüdische orthodoxe Sichtweise entsprechende Tätigkeiten eingrenzt.
Jüngste Geschichte des Judentums in Deutschland
Seit 1990 siedelten nach Deutschland über 200.000 jüdische Bürger aus den ehemaligen UdSSR-Ländern um. Diese Menschen bilden absolute Mehrheit fast jeder Jüdischen Gemeinde in Deutschland. Eine erhebliche Anzahl der Personen, die als Juden nach Deutschland gekommen sind, um hier jüdisches Leben wiederaufzubauen, sind so genannte Vatersjuden (Menschen, die einen jüdischen Vater und eine nichtjüdische Mutter haben). Diese wurden von den bestehenden jüdischen Gemeinden als Mitglieder nicht aufgenommen, da sie laut der orthodoxen Sichtweise nicht als Juden gelten. Die Rekonstruktionistische Strömung des Judentums sowie die Weltunion der progressiven Juden heißen die Vatersjuden in Ihren Gemeinden herzlich willkommen. Sie sind gleichberechtigte Mitglieder der progressiven Jüdischen Gemeinden der Welt. In Anbetracht der Deutschen Geschichte ist diese Vorgehensweise in Deutschland längst überfällig.
Rekonstruktionistische Strömung des Judentums
Rekonstruktionisten definieren das Judentum als eine sich entwickelnde Zivilisation, die Religion, Geschichte, Literatur, Kunst, Musik, Land und Sprache umfasst. Durch gemeinsames Erleben der Traditionen, Feste, kulturellen Veranstaltungen, Auseinandersetzungen mit jüdischer Lehre bekräftigen wir unser Zugehörigkeitsgefühl zum Jüdischen Volk.
Das Judentum wurde durch rabbinische Auslegungen der Tora im Laufe der Jahrtausende immer weiterentwickelt und verändert. So wurde zuerst die Jüdischkeit durch den Vater weitergegeben. Erst vor ca. 2000 Jahren wurde es rabbinisch beschlossen, dass die Jüdischkeit durch die Mutter weitergegeben wird. Deshalb behält sich die Rekonstruktionistische Strömung des Judentums das Recht vor, zu behaupten, dass beides richtig ist. Die Rekonstruktionisten glauben, dass Juden das Recht und die Verpflichtung haben, das Judentum zu rekonstruieren, damit es mit unserem Leben in der Gesellschaft realistisch vereinbar ist und im Einklang steht.
Wir gestalten das Judentum mit, wie es die jüdischen Gelehrten immer getan haben. So führten die Rekonstruktionisten eine Bat Mitzvah ein (Fest religiöser Mündigkeit eines Mädchens). Diese Tradition wurde von allen anderen Strömungen des Judentums übernommen.